Wie alles begann
Mit Charles Lutwidge Dodgsons alias Lewis Carrolls Alice-Bücher (Alice im Wunderland und Hinter den Spiegeln) haben sich zahlreiche Kritiker und Wissenschaftler auseinandergesetzt. Deren Meinungen gehen zum Teil weit auseinander. Halten die einen die Nonsens-Geschichten des vielschichtigen viktorianischen Mathematikers für oberflächlich, entdecken andere eine Fülle von politischen und gesellschaftlichen Anspielungen oder psychologische Tiefen. Wunderland, so der Biograph und Kinderbuchautor Humphrey Carpenter, habe die Kinderliteratur revolutioniert. Der Professor für Englische Literatur und Kinderliteratur, Peter Hunt, hat nun in seinem Buch „Die Erfindung von Alice im Wunderland“ die Persönlichkeit, das Leben und die Welt des exzentrischen Schriftstellers mit dessen wohl bekanntesten und wohl nie ganz zu verstehenden Werk in Zusammenhang gebracht und eine weitere Bewertung hinzugefügt.Bootsausflug mit Damen
Mit dem „berühmtesten Bootsausflug in der Erzählkunst“ steigt Peter Hunt in die Auseinandersetzung mit Dodgsons Kindergeschichten ein und entlarvt die Story um die Entstehungsgeschichte des Buches Alice im Wunderland -zumindest in gewissen Teilen – selbst als Fiktion, allerdings, wie er betont als sehr charmante. Sicher, die Bootsausflüge hat es gegeben, die reale Alice ebenfalls und dass sich Dodgson für seine kindliche Freundin gerne phantastische Geschichten ausdachte stimmt durchaus. Und doch ist es dem Kinderbuchautor gelungen, auf der realen Basis einen Mythos zu entwickeln, auf Grund dessen die Stadt Oxford noch immer jedes Jahr den sogenannten „Alice's Day“ begeht.
Nicht revolutionär aber einzigartig
Ganz so beiläufig und zufällig wie es der Mythos scheinen lässt, war die Entstehung von Alice im Wunderland nicht. Dodgson war, wie Hunt es formuliert „geradezu durchdrungen von Kindheitskultur jeglicher Art“. Und so ist es kein Wunder, dass sich in den Alice-Büchern vielerlei Anspielungen und Verballhornungen der zeitgenössischen Kinderliteratur zu finden sind. Allerdings war Dodgson nicht der erste Autor, der die humorlosen moralinsauren Kinderbücher des Genres „Schreckenswarnung“ satirisch auf den Arm nahm. Bereits Dr. Heinrich Hoffmannn hatte 1845 eine Parodie unter dem Titel „Der Struwelpeter“ herausgegeben, und Catherine Sinclair hatte 1839 mit der „Fairchild Family“ laut Peter Hunt das berühmteste Beispiel einer Liberalisierung der strengen Kinderliteratur publiziert. Dodgson konnte also durchaus aus dem Vollen schöpfen und tat dies auch mit seinen ganz eigenwilligen Nonsens-Geschichten.
Schillerndes Erzählgewebe
Auch wenn, wie Peter Hunt es tut, die Alice-Bücher akribisch analysiert werden, so besteht immer die Gefahr, selbst dabei in den von Dodgson gewobenen Geschichten aus Realität und Fiktion verloren zu gehen. Es gibt auch in John Tenniels Illustrationen zahlreiche teils sehr detaillierte Hinweise und Anspielungen auf reale Personen und Orte, auch Alice Liddell ist insbesondere in den ersten Ausgaben relativ leicht wiederzuerkennen. Aber tatsächlich entstanden im Laufe der Zeit mehrere Versionen von Alice im Wunderland und die fiktive Alice entfernte sich dabei immer ein wenig mehr vom realen Vorbild. Kein Wunder, denn in den Büchern blieb die Protagonistin Kind, während die reale Alice natürlich erwachsen wurde. Zudem war das Buch ursprünglich tatsächlich für Dodgsons kindliche Freundin geschrieben, wurde aber nach und nach für die Allgemeinheit modifiziert.
Literarisches Labyrinth
Aus des viktorianischen Schriftstellers Feder ist, wie Hunt detailreich aufdeckt, ein wahres literarisches Labyrinth entstanden, dass neben der Gesellschaft Oxfords, dem Leben Alices und ihrer Cousinen, auch seine Gefühle, Leidenschaften und durchaus vielseitigen Interessen und Überzeugungen einfließen lässt. Alles in allem zeigt Hunts Auseinandersetzung mit Dodgsons alias Carrolls Alice-Büchern, dass diese nicht nur einen nahezu unerschöpflichen Quell der Inspiration sondern auch weniger Nonsense als man gemeinhin denkt darstellen.
Peter Hunt: Alice im Wunderland. Wie alles begann. Wbg Theiss 2021. Hardcover, 128 Seiten
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