Ein Buch über berühmte Kriminalfälle des 11. bis 15. Jahrhunderts
Was sich zunächst wie eine Sammlung finsterer Mordgeschichten mit Hexenfolter und Räuberromantik anhört, entpuppt sich bei der Lektüre als spannend aufgemachter Einblick auch in die Rechtsgeschichte des Mittelalters. Und so manches Ereignis, das wir aus dem Geschichtsunterricht kennen, stellt sich bei näherer Betrachtung nicht unbedingt als beispielsweise königliche Großtat, sondern schlichtweg als auch im damaligen Rechtsverständnis kriminelle Handlung heraus.Es sind vor allem prominente Protagonisten, an denen die AutorInnen Malte Heidemann und Franziska Schäfer die Kriminalfälle entwickeln und in diesem Zusammenhang das mittelalterliche Rechtsverständnis aber auch Rechtssystem veranschaulichen. Da ist als erster Fall die Entführung des minderjährigen Königs Heinrich IV., im Grunde eine bekannte Geschichte, die die politischen Auseinandersetzungen um die Nachfolge des Kaisers Heinrich III. durch seinen Sohn zum Inhalt hat. Im damaligen Rechtsempfinden war die Entführung des Königs durch eine hochkarätige Verschwörergruppe um den Erzbischof von Köln ohne Zweifel ein Verbrechen. Vor Gericht verhandelt wurde es jedoch nicht, da der mögliche Richter ausgerechnet der minderjährige Entführte war. Dennoch musste der Erzbischof aufgrund des „öffentlichen“ Drucks seine Tat rechtfertigen und seine mit der Entführung ursprünglich verbundenen Absichten – über den persönlichen Einfluss auf den zukünftigen Kaiser seine Machposition auszubauen – aufgeben.
Eine Liebesgeschichte, die zum Krimi mit tragischem Ausgang wurde
Weniger bekannt dürfte die Geschichte des Philosophen Petrus Abaelard sein, der sich in die schöne Heloisa aus Paris verliebt hatte und den Auftrag von Heloisas Onkel Fulbert, sie wissenschaftlich auszubilden, missbrauchte, um während des Unterrichts seine Leidenschaften mit ihr auszuleben. Die Liebe beruhte zweifellos auf Gegenseitigkeit und als die Geschichte herauskam und die junge Frau von dem deutlich älteren Hauslehrer zudem ein Kind erwartete, tat Abaelard alles ihm Mögliche, um den gesellschaftlichen und familiären Konflikt zu bereinigen. Aber verletzte Eitelkeiten, Stolz und Scham führten schließlich zu einer Eskalation zwischen dem Gelehrten und Fulbert, der in der Entmannung Abaelards durch gedungene Täter gipfelte. Die Täter wurden schnell gefasst, selbst entmannt und geblendet, Fulbert vorübergehend von seinem Amt als Kanoniker im Domkapitel suspendiert und ihm und seiner Familie sämtliche Güter entzogen. Den AutorInnen gelingt es hier nicht nur die leidenschaftliche und tragische Liebesgeschichte und die rechtlichen Hintergründe der Tat lebendig zu vermitteln, sondern auch noch das Werk und weitere Leben des Philosophen in die Geschichte einzuflechten.
Geschichten von Mord, Machtkämpfen und Massakern
Von dieser Kombination, dem jeweils persönlichen Schicksal, den historischen und gesellschaftlichen Hintergründen und den im Einzelfall auch politischen Folgen krimineller Handlungen bedeutender historischer Figuren, leben die von den AutorInnen ausgewählten mittelalterlichen Kriminalfälle. Sei es der Mord an König Edward II., dem homosexuelle Neigungen nachgesagt wurden und bei dem sogar seine machthungrige Frau ihre Hand im Spiel hatte, sei es das Schicksal Heinrich des Löwen, der seinen Machtmissbrauch und seine Arroganz so weit trieb, dass Kaiser Friedrich Barbarossa schließlich den Klagen seiner Feinde statt gab. Das Spektrum der Rechtsbrüche und ihrer Konsequenzen für die Beteiligten ist außerordentlich vielschichtig und die von den AutorInnen aufgegriffenen Fälle liefern einen interessanten Überblick. So werden auch die unter dem Begriff „Rintfleisch-Pogrom“ geführten Massenmorde an Juden in süddeutschen Städten oder die Vernichtung des Templerordens in Frankreich mit geradezu modernen polizeistaatlichen Methoden thematisiert.
Rechtsprinzipien: Vom Schadensausgleich zur Strafe
Ob Urkundenfälschung, Herstellung von Falschgeld, Unterschlagung und Geheimnisverrat, ob der Justizmord an Jeanne d’Arc oder die geradezu kleptomanisch anmutende Sammelleidenschaft von Reliquien, durch die sich der römisch-deutsche Kaiser Karl IV. auszeichnete, oder der vermutete Ehebruch der Maria von Brabant, die vorgestellten Fälle sind gut dokumentiert. Immerhin handelt es sich, wie die AutorInnen im Vorwort erklären, um überwiegend prominente Verbrechen, die nicht nur stark ins Politische der damaligen Zeit tendieren, sondern auch nur in diesem Zusammenhang erklärbar sind. Gleichzeitig wird aber auch der Wandel des Rechtsverständnisses deutlich, das sich vom Prinzip des Schadensausgleichs zum Grundsatz der Strafe entwickelt, der bis heute unser Rechtsempfinden bestimmt.
Neben der gelungenen Auswahl der Fälle zeichnet sich das Buch durch eine recht lockere Schreibe aus, die den literarischen Geschichtsunterricht für den Leser zu einem Vergnügen macht. Dazu gehört auch, dass bewusst auf Fuß- oder Endnoten verzichtet wird, nicht aber auf die Angabe von Quellen und Sekundärliteratur.
Malte Heidemann / Franziska Schäfer: Tatort Mittelalter. Berühmte Kriminalfälle. Philipp von Zabern. 2013. Gebunden 144 Seiten.
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