Freitag, 14. Oktober 2022

In 80 Büchern um die Welt

Abenteuerliche Reisen von Marco Polo, Anna Seghers . . . u.v.a.

Mehr als 50 AutorInnen konnten für die 2022 erschienenen englischen Originalausgabe Literary Journeys. Mapping Fictional Travels Across the World of Literature gewonnen werden, die hier als deutsche Übersetzung unter dem Titel In 80 Büchern um die Welt vorliegt. Unter den tatsächlich 78 vorgestellten Büchern finden sich neben allgemein bekannten wie die Odyssee, die Reisen von Marco Polo, das Herz der Finsternis oder Schiffbruch mit Tiger auch Titel, die die LeserInnen nicht sofort in die Kategorie Reiseliteratur einordnen würden. Und immer wieder werden auch Bücher vorgestellt, die weniger vielseitige Leseratten kaum auf dem Schirm haben dürften.

Von Homer bis Amor Towles

Die Reise durch die Welt der Literatur mit Reisebezug beginnt mit dem Klassiker Odyssee, deren Vorstellung wie auch die der darauffolgenden Reisen des Marco Polo noch relativ leicht nachzuvollziehen ist. Schließlich darf der Autor bei diesen Werken wie auch beispielsweise bei in 80 Tagen um die Welt oder vielleicht Doktor Schiwago zumindest den Inhalt als weitgehend bekannt voraussetzen. Erst wenn der/die LeserIn auf Werke stößt, die ihm/ihr nicht vertraut sind und zu deren Genre er/sie keine besondere Affinität hat, wird deutlich, welche Herausforderung für die jeweiligen Autoren darin bestand, Inhalt, Hintergründe und Besonderheiten eines literarischen Werkes auf zwei bis vier illustrierten Buchseiten zu vermitteln. Dass die Bewältigung dieser Herausforderung bei rund 50 AutorInnen in Struktur und Duktus ihrer Buchvorstellungen durchaus unterschiedlich gelungen ist, liegt in der Natur der Sache.

Reise durch die Literaturgeschichte

In meiner Wahrnehmung jedenfalls ist der Klappentext, der sehr stark auf „Leseabenteuer über ferne Länder“ abhebt, ein wenig irreführend. Denn es geht vor allem um Literaturkonzepte, Protagonisten, Autoren und historische und gesellschaftliche Hintergründe. Wer mit diesen Erwartungen an das Buch herangeht, ist damit tatsächlich gut bedient, auch wenn meines Erachtens von den LeserInnen gelegentlich zu viel literarische Vorkenntnisse erwartet werden. Die Einteilung der vorgestellten Bücher in „Expeditionen und Reisen“ (Antike bis 19. Jahrhundert), „Zeitalter des Reisens“ (1. Hälfte 20. Jahrhundert), „Postmoderne und neue Wege“ (2. Hälfte 20. Jahrhundert) und „Reisen in der Gegenwart“ (21. Jahrhundert) zeigen die Entwicklung der „Literatur mit Reisehintergrund“, die auch hinsichtlich ihrer Botschaften, Konzepte und Thematisierungen in dem jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext eingebunden ist.

Geographische, emotionale und psychische Entdeckungen

Abgesehen davon, dass der/die LeserIn bei der Lektüre des Buches allein wegen des breiten Spektrums der behandelten Werke sicherlich für sich auf die eine oder andere neue und interessante Lektüre stößt, liefert auch der historische Vergleich durchaus spannende Erkenntnisse. Eine davon ist sicherlich, dass sich der Zweck des Reisens im Allgemeinen aber auch der Literatur mit Reisebezug und ihren Botschaften im Besonderen im Laufe der inzwischen schon Jahrtausende währenden Literaturgeschichte je nach Epoche teilweise grundlegend geändert hat. Das reicht von Kriegszügen über Handelsreisen, Flucht und Vertreibung bis hin zur Selbstfindung oder Realitätsflucht, von ideologischer Rechtfertigung, über religiöse Manifestationen bis zu emotionalen und psychologischen Selbst- und Fremdbetrachtungen. Auch wenn die Texte teilweise etwas kurz sind und damit im Einzelfall eine Reihe von Fragen offenlassen, so lohnt die sorgfältige Lektüre durchaus.

In 80 Büchern um die Welt. Abenteuerliche Reisen von Marco Polo, Anna Seghers, Paulo Coelho, Wolfgang Herrndorf u.v.a. wbg Theiss 2022. Hardcover 256 Seiten. 

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