In seinem Buch der Butt schrieb Günter Grass gleich am Anfang einen denkwürdigen Satz. Einen Satz nach dessen Lektüre die Welt nicht mehr so war wie sie einmal war. Der Satz beinhaltete eine Formulierung, die nach Intellekt roch, nach Hochliteratur, nach Hochkultur. Günter Grass schrieb: "Gegen Ende der Jungsteinzeit erinnere ich unseren ersten Streit:"
Welch eine Formulierung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die deutschsprachige Welt sich erinnert. Millionen von Schülern mussten bei Strafe der Nichtversetzung mit all ihren fatalen Folgen für das spätere Leben bis hin zur Altersarmut lernen:
Ich erinnere mich an etwas.
Du erinnerst dich an etwas.
Er sie es erinnert sich an etwas.
Wir erinnern uns an etwas.
Ihr erinnert euch an etwas.
Sie erinnern sich an etwas.
All das vernichtete Grass quasi mit einem genialen Federstrich. Er erinnerte!
Vorbei die komplizierten Zeiten, als man sich überlegen musste, an was man sich erinnerte oder an was man wen erinnern musste. Grass erinnerte und zwar überraschenderweise den ersten Streit. Welche Interpretationswelten ergaben sich nun, welche Gedanken wurden dadurch endlich frei. An was hatte Grass wohl den ersten Streit erinnert und wie hatte der darauf reagiert. Hatte der Streit daraufhin auch erinnert und wenn ja wen, was oder wie?
Vielleicht wäre diese Formulierung nur als norddeutsche Marotte (laut Duden) durchgegangen, gramatikalisch zwar falsch aber irgendwie schick, so wie das Berliner Gegenstück "Ick erinnere mir an Dir." Letzteres hatte aber keine solche Karriere zustande gebracht wie das geniale Erinnern des in bestimmter Hinsicht so vergesslichen Grass. Aber welcher Berliner hat jemals wie der Literaturpreisträger, den Blick weise denkend in weite Ferne gerichtet (bei dem Berliner hätte man das wahrscheinlich für einen blackout gehalten), gelassen und ehrfurchtgebietend an der Pfeife nuckelnd, Kopf ein wenig zur Seite und nach einem tiefen Einatmer gesagt "ick erinnere mir . . . ", und dabei seinem Blick jene grasssche Bedeutungsschwere verliehen, die inzwischen Generationen von Kulturbeflissenen zur Nachahmung verleitet hat.
Nur so lässt sich erklären, dass diese gramatikalisch und inhaltlich völlig unsinnige Formulierung inzwischen von all jenen verwendet wird, die sich den Anstrich des Intellektuellen, des Kultur- und Literaturkenners geben möchten. Klar, ich erinnere daran, das diese merkwürdige Erinnerungskultur Anfangs immerhin als Beweis gelten konnte, den Butt von Grass gelesen zu haben (hat ja nicht jeder freiwillig gemacht). Wie dem auch sei, seitdem erinnern Fernsehmoderatoren, Wissenschaftler, Schauspieler, Journalisten, Buchautoren und viele andere Personen des öffentlichen und intellektuell als gehoben geltenden Lebens alles Mögliche, dass sich die gramatikalischen Balken biegen. Selbst die überbordenden Intellektes in der Regel unverdächtigen Politiker oder Wirtschaftsführer (Skrupellosigkeit ist schließlich nicht automatisch ein Zeichen von Intelligenz) erinnern auf grassliche Weise.
Ich sehe keine Chance, dass sich die sprachliche Erinnerungskultur wieder irgendwann den doch recht spießigen aber in diesem Fall sehr sinnvollen und aussagekräftigen gramatikalischen Vorgaben annähert. Das so schrecklich schicke Erinnern klingt doch einfach zu gebildet, auch wenn die Verwendung dieser Formulierung zumindest bei nicht Norddeutschen eher das Gegenteil vermuten lässt.
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