Pirat wider Willen
Freiberg 1695: Der gerade einmal 15 Jahre alte Richard, wird von seinem mächtigen Vater, dem Ratsherren und Silbergrubenbesitzer Balthasar Kreuzner gezwungen, als Steiger in die marode, aber einträgliche Grube einzufahren, um das Handwerk zu erlernen, und später einmal das Familienunternehmen samt Pochwerk und Silberhütte weiterzuführen. Für den jungen Richard alles andere als eine Verheißung, denn er war ein Bücherwurm und sein Traum war es, Bibliothekar in London zu werden. Doch der gestrenge und skrupellose Bergwerksunternehmer hatte wenig Sinn für die literarischen Ambitionen des in seinen Augen missratenen Sprösslings und setzte zur Durchsetzung seiner Pläne außerordentlich drastische Erziehungsmethoden ein.Von Flucht, Mord und Totschlag
Und so beginnt das Buch dort, wo die von väterlicher Gewalt und Skrupellosigkeit geprägte Jugend wohl beinahe zwangsläufig enden musste: 1701 unter dem Galgen in London, dort, wo Richard dem Journalisten und Schriftsteller Daniel Defoe seine Lebensgeschichte in die Feder diktierte. Denn der sensible Richard hatte sich den Vorstellungen seines Vaters widersetzt und war dabei in falsche Gesellschaft geraten. Der berüchtigte Freibeuter Kapitän William Kidd war zu seinem Mentor geworden und hatte Richard dazu gebracht, Dinge zu tun, die zunächst seinem Wesen widersprachen, schließlich jedoch sein Leben zu prägen und zu bestimmen begannen. Grausame Dinge die Freibeuter und Piraten eben tun und die der Autor Johann Christian Lotter gelegentlich in einer Weise beschreibt, die den/die LeserIn mit in den Strudel von Gewalt und Brutalität ziehen, ihn/sie beinahe zu MittäterInnen werden lassen.
Geschichte, Geschichten und Fiktionen
Lotter hat ein faszinierendes Gespinst aus den Lebensläufen zahlreicher realer historischer Figuren aufs Papier gebracht, innerhalb derer sich der fiktive Protagonist bewegt und als so etwas wie ein literarisches Bindemittel fungiert. Auch die Ereignisse wie Kaperungen, Meutereien, Streitigkeiten, in die das Piratenleben des Protagonisten eingebettet ist, sind historisch belegt. Dabei changiert die Erzählung geschickt zwischen erstaunlich präziser Wiedergabe von aus entsprechenden Dokumenten bekannten Ereignisabläufen und fiktiven Passagen, die zwar an Bekanntes zu erinnern scheinen, jedoch weitestgehend erfunden sind. Die Schatzinsel sei hier nur als Beispiel angeführt. Dieses „Treasure Island“, dem wir allein aufgrund des Auftritts Daniel Defoes glauben, in diesem Buch begegnen zu dürfen, kommt ebenso wenig vor, wie die Robinson Crusoe- Insel, obwohl nicht nur mit dem Wilden Thursday, der eigentlich Friday heißen sollte, entsprechende Hinweise im Roman offensichtlich zu sein scheinen.
Literarische Entdeckungsreise
Neben der historischen Korrektheit auf der einen Seite fasziniert das Buch also auch durch die offensichtlich bewusst gelegten falschen Spuren und fantasievollen Bezüge zu irrealen Dingen, die sich schließlich auch im Rahmen des Rachefeldzuges Richards gegen seinen ehemaligen Mentor und späteren Todfeindes William Kidd ausdrücken. Für FreundInnen historischer Seefahrtsromane ist dieses Buch durchaus ein Vergnügen. Das liegt nicht nur an der überzeugenden Darstellung des zeitgenössischen Lebens, sondern auch an der Tiefe der wichtigsten Charaktere und natürlich der Entwicklung des Protagonisten, in dessen Werdegang sich wie zufällig auch die seinerzeit gerade aufgekommene Determinismusdiskussion widerspiegelt.
Johann Christian Lotter: Im Bann der Freibeuter. Emons Verlag 2025. Paperback, 384 Seiten.
Lesen Sie auch:

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen