Geschichten aus der Südsee
Rund eineinhalb Jahrzehnte hat sich der australische Abenteurer und spät berufene Schriftsteller Georg Louis Becke (1855 – 1913) im Pazifik herumgetrieben und auf polynesischen und mikronesischen Inseln in Handelsvertretungen gearbeitet oder eigene Geschäfte bestrieben. 1893 konnte er mit seiner Kurzgeschichte „Tis in the Blood“ (es liegt im Blut) schließlich sein schriftstellerisches Debüt feiern.Wahres Bild der Südsee?
Mit seiner Aufsatzsammlung „Zwischen Riff und Palmen“ erinnert Harald Kastler an den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Schriftsteller, der von seinen Zeitgenossen in die Nähe von Joseph Conrad und Robert Louis Stevenson gerückt wurde. Die Geschichten, die Harald Kastler übersetzt und bearbeitet hat, stammen aus Beckes Frühwerk, dem 1894 erstmals erschienenen „By Reef and Palm“. Dabei geht es, wie der Earl of Pembroke in seiner Einleitung zur Erstausgabe treffend beschreibt, um „Die Liebe zwischen weißen Männern und braunen Frauen, oft zynisch und brutal, manchmal ungemein zärtlich und ergreifend“. Die, so Pembroke weiter, „nimmt zwangsläufig einen großen Raum in jedem wahren Bild der Südseeinseln ein, und Herr Becke hat sich, zweifellos in künstlerischer Absicht, in der jetzt angebotenen Geschichtensammlung fast ausschließlich auf diesen Aspekt des Lebens beschränkt.“
Die Welt der weißen Männer
Keine Frage, die rassistische und latent frauenfeindliche Einstellung ist so ziemlich allen Werken der kolonialen Zeit immanent und auch die Geschichten Beckes machen da keine Ausnahme. Doch ähnlich wie auch die Werke Conrads, Stevensons, Melvilles und anderer zeitgenössischer Autoren vermitteln sie dem/der LeserIn ein recht authentisches Bild des europäisch-kolonialistischen Selbstverständnisses. Er entführt uns in eine Welt, in der die durch die Reiseberichte Cooks oder Bougainvilles ausgelöste Südseeromantik der Ernüchterung gewichen ist, eine Welt, in der sich die indigenen Kulturen der Archipele und Atolle der Südsee unter dem Einfluss gewaltsam durchgesetzter Handels- und Machtinteressen der europäischen Kolonialmächte längst begonnen haben, aufzulösen. Es ist durchaus, wie der Earl of Pembroke schreibt, ein „wahres Bild der Südsee“, allerdings einer Südsee, der weißen Männer, Glücksritter, Zivilisationsmüder, verkrachter Existenzen und Händler, in der die indigenen Kulturen nurmehr exotisches Beiwerk darstellen.
Das koloniale Kapitel der Südseegeschichte
Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, das Buch sowohl als historische Abenteuerlektüre, als auch als Anregung zu nutzen, sich mit dem kolonialen Kapitel der Südseegeschichte näher auseinanderzusetzen. Denn als subjektive literarische Aufarbeitung persönlicher Erlebnisse haben (nicht nur) die Geschichten Beckes zweifellos authentischen Charakter. Die Welt, in der diese Abenteuer spielen enthält jedoch gerade aufgrund der zeitgenössischen eurozentrischen Sichtweise des Erzählers eine Menge Fiktion, die das mangelnde Verständnis der indigenen Kulturen zwangsläufig ersetzen muss.
Louis Becke (Autor), Harald Kastler (Hrsg./Übersetzer): Zwischen Riff und Palmen, Geschichten aus der Südsee. CreateSpace Independent Publishing Platform 2010. Taschenbuch 213 Seiten. ISBN 978-1456354053
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