Mittwoch, 20. Dezember 2023

Ach, wie gut, dass niemand weiß …

Sprichwörtliche Redensarten aus dem Märchenreich

Viele Redensarten und geflügelte Worte, die heute gebräuchlich sind, stammen aus Märchen vergangener Zeiten. Der studierte Historiker und Germanist Dr. Rolf-Bernhard Essig hat sich auf ihre Spur begeben und vor allem die Märchen des 17. Bis 19. Jahrhunderts und ihre „Erfinder“ zum Ausgangspunkt seiner Forschungen gewählt. Dabei vermittelt der Autor auch Grundsätzliches zur literarischen Evolution dessen, was wir in unserem Sprachraum heute unter Märchen verstehen.

Märchenhafte Perspektive

Wer sich selbst schon ein wenig mit Märchen beschäftigt hat, dem wird vieles dessen, was Essig beispielsweise über die grimmschen Überarbeitungen der tradierten und "dem Volksmund abgeschauten" Märchentexte schreibt, nicht gänzlich unbekannt sein. Und natürlich ist ein Märchenkenner ohne weiteres in der Lage, die meisten der geflügelten Worte den entsprechenden Märchen zuzuordnen. Doch der Bezug zu den noch heute ohne das märchenhafte Hintergrundwissen verwendeten Redensarten, eröffnet durchaus neue und interessante Perspektiven. So zeigt der Autor unter anderem auf, dass die Sprüche von den Grimms durch stilistische „Kunstgriffe“ ganz bewusst auf Eingängigkeit und Durchsetzungfähigkeit im allgemeinen Sprachgebrauch getrimmt wurden. Und so mancher kulturgeschichtliche Hintergrund von Sprichwörtern reicht wesentlich weiter in die Vergangenheit zurück als die Märchen selbst.

Mehr als nur eine Sprüchesammlung

Ginge es in dem Buch ausschließlich um „sprichwörtliche Redensarten aus dem Märchenreich“, würde es wohl schnell langweilig. Doch Rolf-Bernhard Essig gelingt es, bei seinen Betrachtungen immer mal wieder neue Aspekte einzuflechten. So beispielsweise auch zu der weit verbreiteten und in weiten Teilen auch zutreffenden Meinung, die Märchen in ihrer damaligen Funktion als „Lehrbücher für Kinder“ würden patriarchalisch geprägte Geschlechterrollen und autoritäre Gesellschaftsstrukturen festschreiben oder seien in ihrer Brutalität für Kinder nicht geeignet. Doch bei genauerer Betrachtung entwickeln Märchen ihre Faszination vor allem durch die ihnen innewohnenden Möglichkeiten, aus Konventionen auszubrechen, eigene Lebensentwürfe zu entwickeln und Hierarchien in Frage zu stellen. Dazu gehört eben auch das den Märchen immanente Angebot, Realitäten anders zu denken, die Geschichten ganz unterschiedlich zu interpretieren und vor allem immer wieder neu und anders zu erzählen und jeweils zeitgenössische Botschaften herauszulesen.

Märchen nichts für Kinder?

Möglicherweise ist dies auch eines der Geheimnisse, weshalb viele märchenhafte Sprichwörter und Redewendungen bis in unsere Zeit überdauert haben, obwohl vielen Menschen ihr Bezug zu den Märchen längst nicht mehr präsent ist. Sie sind halt einprägsam und anpassungsfähig.

„Ach, wie gut, dass niemand weiß …“ ist tatsächlich ein recht vielschichtiges Büchlein, in dem sich für LeserInnen mit unterschiedlichen Vorkenntnissen allerlei Spannendes entdecken lässt. Und in gewisser Hinsicht stellt es auch einen Beitrag zur meist recht oberflächlich geführten Diskussion um die Frage dar, ob man das „kulturelle Erbe“ der Grimms, Andersens, Brentano, Hauffs oder Perraults verändern, modernisieren oder den heutigen Vorstellungen anpassen darf oder ob insbesondere die „traditionellen“ Märchen als Kinderlektüre heute noch zeitgemäß sind.

Rolf-Bernhard Essig: Ach, wie gut, dass niemand weiß … Sprichwörtliche Redensarten aus dem Märchenreich. Duden 2023. Taschenbuch 168 Seiten.

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