Sprache: Mehr als nur Worte, Begriffe und Grammatik
Die Geschichte der europäischen Begegnung mit den oft schriftlosen Kulturen anderer Kulturkreise ist – wie es so treffend heißt – eine Geschichte der Missverständnisse. Wie sollte sich der von seiner kulturellen Überlegenheit und seinem missionarischen Auftrag überzeugte „Entdecker“ auch in die kulturellen und damit sprachlichen Andersartigkeiten einfühlen können. Bestünden die Unterschiede lediglich in der Grammatik, wäre eine Kommunikation sicherlich recht unkompliziert gewesen. Aber so manche Sprachen bestanden eben auch in Lauten und Ausdrucksformen, die sich durch eine klassische grammatikalische Analyse nur schwer erschließen ließen. Wesentlicher aber waren die den jeweiligen Sprachen zugrunde liegenden Unterschiede in der Gesellschaftskonzeption und Weltsicht. Wie sollte beispielsweise eine missionarische Unterwerfung unter einen allmächtigen Gott und König vermittelt werden, wenn weder göttliche noch weltliche Hierarchien, Privateigentum oder Profit Teil der Kultur-Gesellschafts- Gedanken- und damit Sprachwelt der zu unterwerfenden Gemeinschaften waren?
Geheim-, Kunst- und Mischsprachen
Über diese und andere Aspekte der verlorenen Sprachen zieht Rita Mielke, Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin, ihre Leser in den Bann. Dabei beschäftigt sie sich nicht nur mit den Sprachen und Welten „entdeckter“ Kulturen, sondern unter anderem auch mit den sprachlichen Konstrukten, die überhaupt erst mit dem Zusammentreffen der Kulturen entstanden sind. Als Beispiel seien hier die Pidgin-, Geheim- oder Kunstsprachen genannt. Zu den letzteren gehört die sogenannte Lingua franca. Im heutigen allgemeinen Verständnis ist die Lingua franca das Synonym für eine überregionale Verkehrssprache wie Englisch oder Französich. Die ursprüngliche Lingua franca jedoch, eine Art europäisch arabische Mischsprache des Mittelmeerraumes, ist längst ausgestorben. Mindestens ebenso spannend wie die Hintergründe der Lingua franca ist die Reise in die Welt der Pidginsprachen, die sich nicht nur auf die allgemein bekannte englische Version beschränkt.
Dokumentiert, konserviert aber nicht verstanden
Immer wieder stellt die Autorin den Zusammenhang zu den kulturellen, historischen und politischen Hintergründen und Geschichten der ausgestorbenen Sprachen her. Dabei erscheint es nur auf den ersten Blick verwunderlich, wie viel man über Sprachen weiß, die nicht nur ausgestorben sind, sondern selbst auch keine Schriftkultur entwickelt haben. Der zweite Blick zeigt, dass viele der Sprachen zwar beispielsweise von christlichen Missionaren und anderen (europäischen) Forschern in Schriftform gebracht und sogar in von Wörterbüchern konserviert wurden, diese Dokumente letztendlich ohne native speaker ihres kulturellen und Bedeutungshintergrundes verlustig gegangen – im wahrsten Sinne des Wortes - tot, gestorben sind. Auch hierfür liefert Rita Mielke spannende Beispiele. Und so wird ausgerechnet ein „Duden“ zu einem Buch, mit und in dem sich jeder kulturell interessierte Mensch nicht nur informiert, sondern – allein aufgrund des journalistischen Stils – auch wunderbar unterhalten fühlt.
Eine Entdeckungsreise in unbekannte Welten
Mit der Präsentation von 50 Sprachen, ihrer Entwicklung und ihren Besonderheiten führt die Autorin ihre Leser in dem schön illustrierten Buch durch Kulturen in fünf Kontinenten. Mit dem Linguariun, den „eingestreuten“ Themenseiten zur Welt der Sprachen liefert sie zusätzliche Hintergrundinformationen, etwa der Geschichte und der Methoden zur Dokumentation verlorener Sprachen, dem Kauderwelsch oder der wundersamen Welt der Sprachlaute. Ein Duden, spannend, an- und aufregend, voller Entdeckungen.
Rita Mielke: Atlas der verlorenen Sprachen. Duden-Verlag 2020. Gebunden 239 Seiten.
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