Freitag, 21. August 2020

Boten, Helfer und Gefährten

Beziehungen von Mensch und Tier im Wandel

Human Animal Studies, also Untersuchungen zu Mensch-Tier-Beziehungen haben in den letzten Jahren nun auch in Deutschland ihren Platz in der Forschungslandschaft gefunden. Mit Boten, Helfer und Gefährten präsentiert das LWL Industriemuseum im Rahmen einer Ausstellung und des gleichnamigen Begleitbuches Ergebnisse des Forschungsverbundes Arbeitskreis Mensch und Tier im Ruhrgebiet unter der Perspektive der Mensch-Tier-Beziehungen im Rahmen der Industrialisierung. Dass dabei regionale Besonderheiten im Zentrum stehen, versteht sich von selbst.


Es scheint auf den ersten Blick paradox, dass ausgerechnet im Zeitalter der Industrialisierung, die – wie wir gelernt haben - unter anderem durch die Ablösung tierischer Arbeitskraft durch Maschinen geprägt ist, Tieren sowohl in der Produktion als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen in ganz verschiedenen Rollen eine besondere Bedeutung zukommt. An vier Beispielen untersuchen die Autoren die dynamischen Mensch-Tier-Beziehungen und die wesentliche Rolle bestimmter Tierarten als Motor und Katalysator im Verlaufe der Industriellen Revolution. So beschreibt Dietmar Osses, Leiter des LWL-Industriemuseums Zeche Hannover in Bochum die erstaunlichen Beziehungen von Menschen und Tauben in Westfalen und im Ruhrgebiet.

Die patriotische Taube in der Großstadtgosse

Als Symbol der Hoffnung und des Friedens verehrt oder als Ratten der Lüfte verachtet, das Mensch-Taube-Verhältnis ist außerordentlich ambivalent. Immerhin sind die Vorfahren, der „wilden“ Stadttauben, die heute unter erbärmlichen Bedingungen ihr Leben fristen müssen, einst als Kriegshelden verehrt, die Brieftaubenzucht offiziell als patriotische Großtat gefeiert worden. Doch Bereits vor den großen industriellen Kriegen spielten die Tauben als Boten eine nicht zu unterschätzende Rolle. So bediente sich Paul Julius Reuter, der Gründer des legendären Nachrichtendienstes, bereits um 1850 der Brieftauben, um die Lücken zwischen dem preußischen und dem belgischen Telegrafennetz zu schließen und damit die Nachrichtenverbindung zwischen den Börsen in Paris und Berlin herzustellen. Die Brieftaubenzuchtvereine finden in jener Zeit ebenso ihren Ursprung wie die Kleinviehhaltung in den Häusern der Arbeitersiedlungen.

Geliebt, gepflegt, geschlachtet

Julia Bursa und Dr. Lars Winterberg befassen sich in Ihren Aufsätzen mit den unterschiedlichen Aspekten der Mensch-Schwein Beziehung. Die Reise beginnt vor gar nicht allzu langer Zeit, als Fleisch bei uns noch nicht überall zu jeder Zeit in beliebiger Menge als Massenkonsumprodukt verfügbar war. Das behandelte Spektrum reicht von der Schweinehaltung im Arbeiterhaus und die persönliche Beziehung der Menschen zu ihrem Essen, über die Hausschlachtung bis hin zur industriellen Massenfleischproduktion mit der Anonymisierung der Tiere und des Schlachtvorgangs, der Wildschweinjagd und die entsprechenden Folgen wie Tiertransporte, Krankheiten, Fehlernährung und nicht zuletzt Klimawandel und Artensterben. Auch die Pressesprecherin der Firma Tönnies kommt zu Wort, mit einer Darstellung, wie sich der inzwischen in Verruf geratene Massenschlachter beim Schlachtprozess in besonderer Weise um das Tierwohl verdient macht.

Das Pferd, der biologische Industrialisierungsmotor

Jana Golombek und Anja Schwanhäuser befasse sich in ihren Beiträgen mit dem Pferd. Das genießt in Westfalen bekanntlich einen besonderen Stellenwert. Nicht nur in den Kriegen waren Pferde unverzichtbare Begleiter, Transport- und Mobilitätsmittel. Auch unter Tage, bei der Gewinnung des schwarzen Goldes und Treibstoffes der Industrialisierung spielten die Grubenpferde eine zentrale Rolle, ebenso wie die Zugpferde, die vor der flächendeckenden Elektrifizierung die Arbeitermassen mit den Straßenbahnen zu ihren Arbeitsstätten brachten. Arbeiten mussten die Pferde auch für das Freizeitvergnügen der arbeitenden Bevölkerung. Die heute teilweise legendären Galopp- und Trabrennbahnen entstanden in dieser Zeit. Obwohl sie ihre industrielle Funktion verloren haben, erfreuen sich Pferde einer ungebrochenen Beliebtheit, ihre gesellschaftliche Rolle hat sich allerdings weitgehend gewandelt. Die Autorinnen behandeln daher unter anderem auch Aspekte wie Pferde (mädchen) in der Popkultur und im modernen Reit- und Freizeitsport.

Hausbienen und Wildbienen in menschlichem Umfeld

Lisa Egeri und Felix Remter befassen sich mit den Bienen. Dabei erfährt der Leser Spannendes und Erstaunliches über historische und aktuelle Formen und Methoden der Imkerei, also der Hausbienenzucht aber auch über die Wildbienen, ihre Gefährdungen, Ökologie und interessante Forschungsprojekte bis hin zur Rückkehr zur Wildbienenimkerei.
Immer wieder geht es in dem Buch aber auch um die Diskussion der Abgrenzungen zwischen Wild- Haus- und Nutztier, ein Thema, dass in ganz besonderer Weise die Mensch-Tier-Beziehungen prägt und prägte.

Im Anhang des Buches finden sich schließlich anhand der Ausstellungsobjekte Vertiefungen zu Einzelaspekten. Insgesamt einen lohnende, weil mit vielen überraschenden Informationen aufwartenden Lektüre, die allerdings auch offenbart, wie komplex und teilweise noch diffus das „neue“ Forschungsgebiet der Human-Animal-Studies ist.

Lisa Egeri, Dietmar Osses (Hrsg.): Boten, Helfer und Gefährten. Beziehungen von Mensch und Tier im Wandel. Klartext Verlag 2020. Hardcover, 224 Seiten

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen